«Stets der gleiche Orthographiefehler» NZZ, 20.06.2004 In einem muslimischen Friedhof von Strassburg haben unbekannte Täter über fünfzig Gräber geschändet. Die Eskalation in einer unheimlichen Serie rassistischer Attacken mobilisiert Behörden und Religionsgemeinschaften. Die Spuren der Schändung auf dem Zentralfriedhof Meinau im Süden von Strassburg sind entfernt worden. Die Mauer, die den muslimischen Teil des Gottesackers von einem Wald abgrenzt, ist blank gewaschen. In der Nacht auf Montag hatten die Angreifer «Heil Hitler», «Quitter l'Alsace», «White Power» und andere rassistischen Parolen darauf gesprayt - auch «Nabaoui à mort», eine Todesdrohung gegen den Präsidenten des Rats der muslimischen Gemeinden im Elsass. Friedhofgärtner und Angehörige der Toten mussten umgestossene Grabsteine wieder aufrichten und Grabsteine von Hakenkreuzen reinigen. Etwas abseits pflegt ein Ehepaar ein reich geschmücktes Grab. Ahmed und Rachida Bouklia, Franzosen marokkanischer Abstammung, geben bereitwillig Auskunft. Das Grab ihres Sohnes sei unversehrt geblieben, aber in den benachbarten Abteilungen seien fünfzig Gräber geschändet worden. Die Bouklias können und wollen den Vandalenakt nicht erklären, jeder Versuch dazu würde ihm ein kleines bisschen Respektabilität verschaffen. Das Böse kann man nicht verstehen, man erschauert nur davor. «Es ist nicht normal, dass man Tote nicht in Ruhe lässt», sagt Rachida bloss. Immer dreister Der Anschlag der letzten Woche bedeutet eine Eskalation in einer Serie rassistischer Anschläge im Elsass, die sich ebenso gegen Juden wie Muslime richtet. Anfang April wurden im Militärfriedhof des Strassburger Vorortes Cronenbourg gezielt jüdische und muslimische Grabsteine geschändet. Zu dem Zeitpunkt scheinen die Angreifer noch vorsichtig gewesen zu sein. Sie warfen ein halbes Dutzend Grabsteine um, dann machten sie sich aus dem Staub. Eine Woche später besudelten sie die Moschee in Haguenau bei Strassburg und rammten einen brennenden Abfallcontainer in das Eingangstor. Der Brandanschlag misslang. In ähnlicher Weise wurde die türkische Moschee in Meinau angegriffen. Mitte April verschmierten die Täter die Fassade eines muslimischen Lebensmittelladens, eine Woche später wurden in Herrlisheim bei Colmar 130 jüdische Gräber geschändet. Ende Mai verübten die Täter einen Anschlag auf das Haus eines führenden Mitglieds der muslimischen Gemeinde. Trotz den anhaltenden und häufigen Vergehen rätseln Betroffene und Lokalpolitiker über die Urheberschaft. Dem Vernehmen nach verfolgt die Polizei eine heisse Spur, will sich dazu jedoch nicht äussern. Laut Hélène Hollederer, der zuständigen Direktorin im Strassburger Bürgermeisteramt, kann es nach den jüngsten Vorfällen keine Zweifel daran geben, dass eine Gruppe von Neonazis am Werk ist. Farbe und Parolen wiesen in Richtung einer einheitlichen Täterschaft. «Die Täter machen sogar bei allen Vandalenakten stets den gleichen Orthographiefehler», sagt Hollederer. Nun hofften die Behörden darauf, dass die Polizei die Gruppe baldmöglichst dingfest mache, und auf «exemplarische Urteile». Pierre Levy, der Elsässer Delegierte des Repräsentativrats der jüdischen Körperschaften Frankreichs (CRIF), möchte nicht ausschliessen, dass die Täter aus Deutschland über die nahe Grenze kommen. Aber der Politologe Franck Frégosi, der am Centre National de la Recherche Scientifique in Strassburg den Aufbau muslimischer Organisationen untersucht, widerspricht der Theorie der «fremden» Antisemiten. Es sei kein Zufall, dass die Häufung der rassistischen Angriffe im Elsass anzutreffen sei. «Der Front National politisiert schliesslich bei uns, nicht in Kehl», sagt Frégosi in Anspielung auf Strassburgs Nachbarstadt ennet des Rheins. Bei den Regionalwahlen im vergangenen März erzielten zwei rechtspopulistische Parteien, der Front National (FN) von Jean-Marie Le Pen und die Regionalisten von Alsace d'abord, zusammen einen Wähleranteil von 28 Prozent. Alsace d'abord führte einen fremdenfeindlichen Wahlkampf und suggerierte in Wahlplakaten, zur traditionellen elsässischen Tracht gehöre bald der Tschador. Lokale religionspolitische und fremdenfeindliche Ressentiments werden ausserdem durch das Projekt einer Grossmoschee im Strassburger Stadtzentrum geschürt. Solidargemeinschaft Die gemeinsame Opferrolle hat unverhofft die Anführer der muslimischen und jüdischen Gemeinden einander nähergebracht. Normalerweise kreuzen sich die Wege von Juden und Muslimen selten. Mit 1500 Mitgliedern ist die jüdische Gemeinde Strassburgs eine der grössten Frankreichs. Die meisten Franzosen jüdischen Glaubens leben im Umkreis der nach dem Krieg neu erbauten Grossen Synagoge im gutbürgerlichen Quartier Contades. Die 40 000 Muslime der Stadt wohnen dagegen in den Vororten, in den mehrstöckigen Plattenbauten der Cités von Meinau und Cronenbourg. Die Algerier kamen nach dem Krieg, Marokkaner und Türken in den siebziger Jahren. Wer es zu etwas gebracht hat, zieht in eines der Einfamilienhäuschen, die zu einer Zeit erbaut wurden, als man den Vororten ihren dörflichen Charakter noch ansah. In einem solchen Haus wohnt Abdelhaq Nabaoui, gegen den die Grabschänder letzte Woche eine Todesdrohung an die Friedhofsmauer malten. Dies zeige, wie zielgerichtet die Täter vorgingen, sagt Nabaoui, der seine Funktion als Präsident des Regionalrats der Muslime (CRCM) seither ebenso aus Trotz wie aus Pflichtbewusstsein erfüllt. Wer sein Wohnzimmer betritt, lässt für einen Moment das Elsass hinter sich. In einer orientalisch eingerichteten Sitzecke schenkt Nabaoui, der hauptberuflich an einer Sekundarschule unterrichtet, Pfefferminztee in farbige Gläser. Es ist erst zwei Monate her, dass Nabaoui mit Pierre Levy die Telefonnummern austauschte. Die beiden Vertreter ihrer Religionsgemeinschaften hatten sich bei einer Protestkundgebung gegen die Schändungen jüdischer und muslimischer Gräber auf dem Militärfriedhof von Cronenbourg getroffen. Levy trat auf Nabaoui zu und bat ihn, dafür zu sorgen, dass ein Spruchband eingerollt werde, das Israel wegen seiner Besetzungspolitik in Palästina angriff. Für Levy überraschend, folgte Nabaoui der Aufforderung. Damit war das Eis gebrochen. «Wir sind Freunde», erklärt Nabaoui. Es vergeht kaum eine Woche, in der beide Männer nicht Solidaritätsdelegationen bei Kundgebungen der jeweils anderen Gemeinschaft anführen. Nach den Schändungen auf dem israelitischen Friedhof von Herrlisheim trafen neben 400 Juden auch 50 Muslime zur Kundgebung auf dem Gelände ein, umgekehrt nahmen letzten Mittwoch an der Manifestation auf dem muslimischen Friedhof von Meinau auch Juden teil. Für Levy wie für Nabaoui stellen die Grabschändungen und Angriffe die Spitze eines Eisbergs dar. Nabaoui nimmt während unseres Besuchs den Anruf einer muslimischen Bürgerin entgegen, die sich bitter darüber beklagt, dass sie am Arbeitsplatz geplagt werde, weil sie den Schleier trage. «Ich bekomme solche Anrufe jeden Tag», sagt Nabaoui. Levy hatte von ähnlichen Anfeindungen gesprochen. Immer öfter hätten Juden Angst, auf der Strasse oder im Tram die Kippa zu tragen. Islamischer Machismo Das Thema ist bei aller zur Schau getragenen jüdisch-muslimischen Solidargemeinschaft freilich heikel. Der sogenannte «neue Antisemitismus», der von Jugendlichen maghrebinischer Herkunft ausgeht und mit dem Nahostkonflikt in Verbindung gebracht wird, zeigt sich auch in Strassburg. Bei Ramadan-Partys in den Cités komme eine Art islamischer Machismo zum Ausdruck, glaubt Hélène Hollederer vom Bürgermeisteramt. Antisemitische Beleidigungen könnten so in den Wortschatz von Jugendlichen einfliessen. Doch ist darum das Zusammenleben der Religionen gefährdet? Lokale Betroffene und Verantwortliche beurteilen das Phänomen des «neuen Antisemitismus» nüchterner als internationale Menschenrechtsorganisationen, die vor einer gefährlichen Entwicklung warnen. Anpöbelungen durch maghrebinische Jugendliche und Grabschändungen hätten sich für die Elsässer jüdischen Glaubens zu einem Gefühl der Bedrohung potenziert, sagt Levy. Die Angriffe auf muslimische Friedhöfe zeigten jedoch, dass man es mit unterschiedlichen Formen des Rassismus zu tun habe. Die Grabschänder seien Rechtsextreme und ein Fall für die Polizei, bei den «neuen Antisemiten» seien eher soziale und erzieherische Massnahmen angebracht. Unter anderem dazu wollen Levy und Nabaoui ihren Dialog in Zukunft nutzen. https://www.nzz.ch/article9OELY-1.268838