Gewaltsrechtfertigung

Michel Graver

Eine kleine, aktuelle Geschichte
Juli 2016



Vorwort

Das Thema dieser kleinen, aktuellen Geschichte beschäftigt mich schon seit einigen Jahren. Als der Bürgerkrieg in Syrien gerade begonnen hat, der Islamische Staat noch als Al-Qaida bezeichnet worden ist und sich scheinbar nur Rebellen und Regime gegenüberstanden, habe ich mich erstmals ausgiebig mit der Lage im Nahen Osten auseinandergesetzt.

In den Jahren danach hat sich eben diese Lage laufend verändert, verkompliziert und sich auch in Europa bemerkbar gemacht. Flüchtlinge kommen zu uns um hier in Sicherheit zu leben, willkommen werden sie geheißen oder sie stoßen auch hier auf Anfeindungen und Bedrohungen.

In dieser kleinen, aktuellen Geschichte möchte ich nun die scheinbaren Rechtfertigungen von Gewalt, wenn auch durch den Umfang dieses Heftchens nur begrenzt, verarbeiten und zum Denken anregen. Die Geschichte kann dabei mal provokant, mal verwirrend, mal angreifend wirken, doch habe ich die Hoffnung, dass man mit ihr auch Vorurteile abbauen und eine kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation und das was aus ihr im schlimmsten Fall folgen könnte, fördern kann.

Grundlage für die Hintergründe dieser Geschichte sind einzelne Gespräche, Erlebnisse und Beobachtungen, die ich die letzten Monate gemacht habe. Ich hoffe aber, dass es zu dem Szenario dieser Geschichte nie in Europa kommen wird, vielmehr dass alle Kriege und Konflikte friedlich und gewaltlos ausgetragen werden. Denn Krieg, Gewalt und Tote sind keine Lösung! Oder was würdest Du sagen?
Michel Graver



I

Der alte Mann sitzt an seinem Schreibtisch. Vor ihm das Abendblatt, ein Bier steht drauf und einzelne Tropfen haben das Papier wellig gemacht. Tropfen des Bieres neben Tropfen der Tränen. Der alte Mann scheint frustriert, wirkt verstört. Er sitzt nun schon eine ganze Weile am Schreibtisch und starrt mal auf den Artikel auf der Titelseite, mal auf die halb-geleerte Bierflasche.

Iraker sprengt auf Volksfest 13 Menschen in den Tod!

Gestern hat sich ein 27-jähriger Iraker auf dem Volksfest am Hafen mit einer Rucksackbombe in die Luft gesprengt und dabei 13 weitere Zuschauer während eines Musik-Auftritts in den Tod gerissen. Der Kurde jesidischen Glaubens floh vor zwei Jahren aus dem Irak, nachdem Terroristen des Islamischen Staates seine Heimat im Sindschar-Gebiet brutal überfielten und dabei unzählige Menschen töteten. Nun stände er vor einer Abschiebung nach Bulgarien, da er dort auf seinem Weg nach Deutschland Asyl beantragt habe, wie die Polizeidirektion auf der heutigen Pressekonferenz mitteilte. Der Mann sei zuvor nicht auffällig geworden, befände sich aber seit seiner Ankunft in psychischer Behandlung aufgrund seines erlittenen Traumatas. Laut Berichten eines Mitbewohners seiner Unterkunft habe er aber schon gehäuft davon gesprochen, sich das Leben nehmen zu wollen. "Das er es jetzt so gemacht hat... das habe ich nicht gedacht... das habe ich nicht erwartet." ...

Zum gefühlt zehnten Mal hat er nun den Artikel durchgelesen, vielmehr Wort für Wort minutenlang betrachtet. Nach einiger Zeit lässt er sich in den alten Bürostuhl zurückfallen, den er aus seinem Büro seines vor nunmehr 15 Jahren geschlossenen Betriebes mitgenommen hat. Nun ist er von den Regentropfen, die an das Sprossenfenster seines Altstadthauses prasseln in Gefangenschaft genommen. Während er immer wieder einzelne Tropfen vom Auftreffen bis zum endgültigen Angelangen am Fensterbrett verfolgt, flieht er in seine Gedanken.




II

Der junge Mann sitzt an seinem provisorischen Tisch in seiner provisorischen Wohnung. Er guckt mit gebanntem Blick auf ein Schreiben. Er versteht es nicht. Vorhin hat ihm einer seiner Nachbarn den Text übersetzt. Seitdem sitzt er nun auf dem schäbigen Stuhl vor dem schäbigen Tisch in seiner äußerst schäbigen Wohnung. Er wohnt hier nun schon seit zwei Jahren, seine Familie und seine Freunde hat er alle zurücklassen müssen, zurückgelassen in Gräbern, in grausamer Gefangenschaft oder in den Trümmern von zerstörten Städten. Er hält es nicht mehr aus. Er hält sein Leben, seine momentane Situation, sich selbst nicht mehr aus, kann nicht mal einen Tag ohne Tränen und Gedanken an sein glückliches und zufriedenes Leben vor einigen Jahren verbringen. So verlebt er jeden Tag, unnütz, einsam und mit einer ständigen Angst und Unzufriedenheit. In Behandlung ist er schon, doch weiß er nicht mehr weiter. Am liebsten würde er seinem Leben ein Ende setzen. Er hat einmal von einem Sprichwort gehört, das auf Deutsch ungefähr dem bekannten "Lieber ein Ende mit Schrecken, als Schrecken ohne Ende" zu übersetzen ist. Dies wäre für ihn wohl die beste Lösung... eine Ende mit Schrecken! Auf gar keinen Fall möchte er wieder zurück, weder nach Bulgarien, in den Irak, noch sonst irgendwo hin. Er möchte lieber hier bleiben, hier kennt er nette Menschen, er möchte arbeiten, leben, Familie. Er möchte der Einsamkeit entfliehen, möchte eine Zukunft ohne Leiden und Trauer. Die Hoffnung, die Hoffnung darauf, die hat er verloren... lieber dem ein Ende... dem Leiden und Trauern...



III

Die junge Frau sitzt am Esstisch. Zufrieden unterhält sie sich mit ihren beiden Töchtern. 14 und 16 sind sie nun beide und zur Schule gehen sie auch schon seit diesem Schuljahr. Vor einem halben Jahr sind sie angekommen, den weiten, schweren Weg haben sie geschafft, nach einigen Umzügen sind sie nun wieder in einem ehemaligen Hotel gelandet. Ihre Wohnung auf dem Dorf hat ihnen zwar deutlich besser gefallen, aber dort gab es ein paar größere Probleme, sodass sie nun wieder in die Stadt ziehen mussten. Hier ist es aber doch irgendwie schöner, denn die Zimmer sind allesamt sehr schön eingerichtet und modern, anders, als sie es in der lange leergestandenen Wohnung aufgefunden haben.

Jeden Tag, den die junge Frau zusammen mit ihren Kinden in Sicherheit leben kann, begrüßt sie überaus fröhlich, auch wenn sie schon viel Leid erfahren musste, ist sie doch glücklich. Ihren Mann hat sie verloren, als ihr Haus auf dem Land in Syrien mit den restlichen Gebäuden ihres Dorfes durch Rebellen zerstört worden ist, kam ihr Mann zu Tode. Ihre Kinder waren zu der Zeit noch recht klein, sodass sie nicht allzu stark traumatisiert sind. Sie haben sich zum Glück rechtzeitig in die nahe liegenden Felsen fliehen können, nur ihr Vater blieb zurück um gemeinsam mit anderen Männern das Dorf zu verteidigen - die meisten lagen am nächsten Tag zwischen den Trümmern, so auch er.

Sie reden über alles mögliche; man könnte sagen, über Gott und die Welt, doch dafür hat die junge Frau ihren Glauben an ihre Religion im Krieg verloren. In der Regel berichten die Kinder zuerst von der Schule, bevor das Gespräch dann in allgemeine Themen übergeht. Heute ist dies aber alles eher durchmengt, denn auch in der Schule wurde eigentlich fast nur über ein Thema gesprochen: Der Volksfest-Anschlag am Hafen. Die junge Frau ist seit gestern Abend völlig verstört und ihre Gefühle schwanken immer wieder zwischen Zufriedenheit über ihr aktuelles Leben, Mitleid und Trauer gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen und einem gewissen Hass gegenüber Behörden und dem Attentäter. Wie kann er soetwas tun, wieso tötet man aufgrund seiner eigenen Frustration unschuldige Menschen? Wieso lassen es die Behörden soweit kommen? Wieso haben sie dem Mann nicht vorher geholfen, wieso stoßen sie ihn durch eine Abschiebeankündigung nahezu in den Tod?

Auch ihre Kinder haben von den Folgen dieses Anschlags kosten können: Die ältere Schwester sollte sich in der Pause für die Toten rechtfertigen, musste aber umständlich und unverständlich erklären, dass sie weder eine gläubige Muslima ist, noch der Attentäter ein Muslim war. Doch leider zeigten die Mitschüler nicht die nötige Intelligenz, um überhaupt zu verstehen, dass Jesiden keine Muslime sind, der Attentäter also kein Islamist sein kann. Auch gab es inzwischen Mitteilungen, dass er weder aus religiösen Überzeugungen gehandelt habe, noch irgendwelche speziellen Ziele verfolgen wollte. Ihre Mitschüler hat dies aber nicht interessiert, genauso wenig wie sie an sachlichen Informationsquellen oder geregelten Diskussionen und Gesprächen interessiert sind.



IV

Der alte Mann hat nachgeguckt. Über seinen Computer hat er im Internet eine Bauanleitung gefunden und sich ein paar Brandbomben, Molotowcocktails, gebaut. Mächtig stolz ist er, da er sowas noch nie gemacht hat und es nun auf Anhieb hingekriegt hat. Auch ist er sonst, wenn er was getrunken hat, eigentlich zu nichts mehr zu gebrauchen und heut kann er sogar Bomben zurecht basteln. Wie er es in dem einen Film gesehn hat, steht er jetzt auch selbst vorm Spiegel und kleidet sich so, dass er in der Dämmerung kaum mehr zu erkennen ist - einzige Schwierigkeit ist, dass er auch selbst kaum etwas erkennen kann, da er nicht weiß, wie er seine Brille tragen könnte, wenn er sich doch vermummen will. Letztendlich lässt er es dann doch bleiben und entscheidet sich nach einiger Überlegung, soweit dass nach den Flaschen Bier noch möglich ist, dafür, einfach ohne Maskierung in seiner normalen Kleidung loszugehen und die Flaschen in der Tasche zu transportieren. Er plant nun sogar einfach mit den Öffentlichen zu fahren, da er dann nicht anhand des Autos erkannt werden kann.



V

Das junge Mädchen hat Angst. Sie kann nicht einschlafen, denn für sie war der ganze Tag irgendwie zu viel, auch sie wurde in der Schule geärgert, von zwei älteren Schülerinnen besonders blöd. Nochmehr Angst aber hat sie, weil sie nicht will, dass das hier so weitergeht, wie sie es vor einigen Jahren in der Heimat erlebt hat. Sie hat Angst. Am Tisch wollte sie davon nichts sagen, sie schämt sich dafür. Ihre große Schwester hat mit ihrer Mutter die ganze Zeit in einem so schönen Deutsch geredet und dann auch noch so schlau; sie aber kann das noch nicht so gut, da sie irgendwie für neue Sprachen nicht allzu gut geeignet ist. Ihre Schwester ist da anders: Sie ist gleich als sie vor einem Jahren zum ersten Mal in Deutschland angekommen sind, zu Sprachkursen hingegangen, gleich zu Beginn schon direkt in der Erstaufnahmeeinrichtung bei den Integrationskursen. Sie selbst war dafür immer noch zu klein, sie hat da immer mit anderen syrischen Kindern gespielt und nur in der Familie, und jetzt auch in der Schule deutsch gesprochen. Zuhause will die Mutter immer, dass man sich auf Deutsch unterhält, da sie meint, man kann nur so in Deutschland etwas erreichen - nach Syrien will sie sowieso nicht wieder zurückkehren.

Nun liegt sie in ihrem Bett, was an der gegenüberliegenden Wand von dem Bett ihrer Schwester steht. Diese hat noch einige Zeit in irgendeinem deutschen Buch gelesen, ehe sie das Licht ausgestellt hat. Seitdem liegen sie nun zu zweit da, ihre Schwester schläft und sie starrt die Decke an und versucht auch endlich einzuschlafen. Doch es kommen immer wieder verschiedene schreckliche Gedanken auf, was wohl passiert, wenn nun nochmehr Gewalt geschieht, wie ihre Mitschüler auf soetwas reagieren, wieso Menschen sich untereinander töten und wie sie das begründen können. Das junge Mädchen ist verwirrt und traurig, sodass sie sehr lange mit offenen Augen da liegt. Irgendwann nach einiger Zeit schläft sie dann unruhig mit ihren Gedanken ein und träumt diese dort weiter.



VI

Mann... was mach ich hier eigentlich? Sitz im Bus mit Bomben inna Tasche und fahre zun Drei Kronen. Was mach ich hier eigentlich? Jetz ja nich nervös aussehn! Alles is normal! Ich fahr einfach mit'n Öffis durche Stadt - is ja nix bei, wenn man sowas macht. Freunde besuch ich mal wieder; darf man ja nochma machn, oda?

Oh warte! Hier müsst ich ja raus... völlig in'n Gedanken, ich Depp. Dann lauf ich eben das kleine Stück, is ja nich weit. Was mach ich denn danach, wenn ich fertig bin... was weiß ich... unauffällig wech einfach. Mal schaun, mach ich dann einfach wie's grad kommt. Mal schaun...



VII

Ist das schrecklich. Wie kann man soetwas machen! Wie? Menschen töten? Weiß der Mann denn nicht, was er uns, uns Flüchtlingen, damit antut? Wir werden damit doch alle gleich verdächtigt! Jeder denkt dann, wir sind hier her gekommen, um zu töten? Aber... aber das stimmt doch nicht! Wir haben doch nichts mit Daesch zu tun, wir sind doch nicht gleich Terroristen, nur weil wir Muslime sind. Wo soll das denn alles hingehen? Brauchen wir hier Gewalt? Ich will das nicht! Nein. Ich will das wirklich nicht.

Was!? Was war das? Scherben! Dieser Gestank! Dieser Lärm! Was ist das?!

Wo... wie... das kommt von neben an! Maryam! Kadija!!!



VIII

Maryam sitzt vor dem Fenster. Vor ihr die heutige Zeitung, von welcher sie die Worte kaum noch entziffern kann. Ihre Tränen haben das Papier wellig gemacht. Sie sitzt da und starrt zum Fenster heraus, schaut mal auf die Titelseite der Zeitung. Sie ist am Boden zerstört. Sie weiß nicht mehr weiter...

Brandanschlag mit 18 Toten auf Flüchtlingsunterkunft!

Vergangenen Abend wurde auf die Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Hotel Drei Kronen ein Brandanschlag verübt. Das bis dahin von 30 Flüchtlingen, darunter überwiegend Familien aus dem Nahen Osten, bewohnte Hotel trafen gegen 23:14 mehrere Molotowcocktails, wodurch es nahezuh vollständig ausbrannte. Durch die schnell eintreffende Feuerwehr konnten lediglich nur noch zwölf EinwohnerInnen lebend gerettet werden, wovon laut Polizeiangaben alle nunmehr außer Lebensgefahr sind. Unter den 18 Opfern sind mehrere minderjährige Kinder, zudem überwiegend Frauen.

Laut Zeugenberichten kam ein einzelner Täter zu Fuß zur Unterkunft und warf aus Entfernung die Wurfbrandsätze. Durch die Unterbesetzung des Sicherheitsdienstes gelang dem Täter Flucht, auch genauere Beschreibungen von ihm fehlen. Die Kriminalpolizei hat ebenso wie eine eingerichtete Sonderkommission die Ermittlung aufgenommen und wird auf einer für heute Abend angekündigten Pressekonferenz berichten.

Ob der Anschlag als eine Reaktion auf das Attentat des Hafen-Volksfestes am Sonntag zu bewerten ist, bleibt nach bisherigen Informationen zwar wahrscheinlich, doch ungewiss. Genauere Hintergründe werden sich, des bisherigen Ermittlungsstandes, noch in den kommenden Stunden ergeben. Wir halten Sie über unsere Online-Zeitung selbstverständlich auf dem Laufenden.



IX

Der alte Mann sitzt am Hafen und schaut in die Ferne. Er sitzt hier, seit dem vergangenen Abend und schaut auf das leicht wankende Wasser, er betrachtet Himmel, Möwen und Schiffe. Nachdem er seine Tat vollbracht hat, ist er gerannt, gerannt so schnell wie er konnte. Nach ewigem Gerenne hat er sich auf eine Bank gelegt und gewartet bis er selbst etwas Ruhe fand. Dann begab er sich zur nächsten Station und nahm stieg in die Buslinie gen Hafen. Dort angekommen ist er noch ein paar Schritte gegangen, ehe er sich hinsetzte.

Nun sitzt er da. Seine zwei mitgebrachten Bierflaschen hat er ebenso fachgerecht entleert, wie er auch den Whisky austrank. Nun sitzt er da. Den Blick auf das Wasser gerichtet. Er weiß nicht, was er tun soll, wie er nun reagieren soll. Nachdem er eine ganze Weile gewartet hatte wagt er dann seinen letzten Schritt. Voll angetrunkener Überzeugung wagt er den Schritt ins kalte Wasser, wagt er den Schritt in den freien Tod.



X

Die allgemeine Situation hat sich geändert. Sie ist aggressiver geworden. Immer häufiger gehen Menschen auf die Straße und demonstrieren für ihre Meinung. Am Montag Morgen, da waren es Bürgerinnen und Bürger, die gegen den Terror von Flüchtlingen Kundgebungen in der Stadt und auch anderswo veranstalteten. Dazu kamen Gegenveranstaltungen gegen eine Verallgemeinerung und den befürchteten Generalverdacht. Nachdem sich nun am Montag der Brandanschlag ereignete, wurden Demos und Kundgebungen gegen rechte Gewalt und Rechtsextremismus durchgeführt.

Ein junger Mann, ein Student der Sozialwissenschaften, ist aktiv und engagiert sich in antifaschistischen Gruppierungen. Auch bei der größeren Demo am Mittwoch ist er natürlich mitdabei! Er sitzt am Morgen im Café und blättert in der lokalen Klatsch-Zeitung herum. Schon ganz vorn steht: "Hafentoter vermutlich Täter beim Brandanschlag - Mann hat sich über AfD informiert!" Nachdem er den dazugehörigen Artikel verschlungen hat, fasst er für sich einen Entschluss: Da muss etwas gegen getan werden!



XI

Maryam ist gegangen, sie hat der Schwester kurz bescheid gesagt, ehe sie das Krankenhaus verließ und mit dem Bus davon gefahren ist. Nachdem sie die traurigen Überreste ihrer Wohnung anschaute, fasst sie für sich einen Entschluss: Ich muss etwas tun! Sie fährt also zu einer Klassenkameradin und zieht bei ihr ein. Ihre Eltern haben da nichts weiter gegen, auch wenn sie lieber wollen, dass Maryam das Jugendamt aufsucht. Doch Maryam versichert, dass sie etwas ändern will.

Mit ihrer Freundin redet sich auch die nächsten Tage sehr häufig und lang über den Anschlag, über ihre Gefühle, wie es ist seine kleine Schwester und seine Mutter in den Flammen zu verlieren. Sie gehen gemeinsam nicht mehr täglich zur Schule oder kommen einfach mal früher nach Hause. Nach ein paar Tagen berichtet Maryam ihrer Freundin von ihren Plänen...



XII

Der linke Student hat sich entschlossen, etwas zu ändern. Auf einer KO im Zentrum erzählt er ein paar anderen Aktiven am Freitag von seinen Überlegungen. Ein paar finden die Grundidee gut, andere lehnen lieber ab, sodass sich am Ende eine Gruppe von fünf eher Autonomen zusammenfindet. Sie wollen auf der angekündigten Gedenkmahnwache zum Attentat am Hafen eine lustige Aktion planen, entweder eine Blockade oder etwas krasseres. Nur auf Gewalt, da haben sie nicht so richtig Lust. Sie finden also einen gewissen Konsens, beim Vorschlag, die Demonstration zu blockieren, am liebsten mit einer Sitzblockade. Im Allgemeinen wurde auch entschieden, keine Gegenveranstaltung anzumelden, sondern vielmehr am Montag einen größere Veranstaltung zum Gedenken der Toten des Brandanschlages zu organisieren.

Die kleine Gruppe hat also am Sonntag viele Möglichkeiten, da ohne angemeldete Gegendemo das Polizeiaufgebot erfahrungsgemäß deutlich geringer ist. Sie wollen also konrekt die Straße direkt in der Altstadt auf der Höhe der Burgstraße spontan blockieren, wenn die rechten Demonstranten eintreffen. Da es hier keine zu sichernde Alternativroute gibt, muss die Blockade entweder geräumt, oder die Demo aufgelöst werden. Für den Fall der Räumung soll dann auch eine größere Gruppe direkt am Endpunkt der Demo eine Besetzung des Entenmarktes durchführen und hier soll es dann auch Redebeiträge und Musik geben um einen gewaltfreien und friedlichen Protest für Toleranz und Solidarität zu starten.



XIII

Unsere Stadt spielt verrückt!

Die Spirale der Demonstrationen dreht scheinbar unendlich weiter und wird immer radikaler. Nachdem ein desillusionierter Jeside, dem die Abschiebung drohte, am Sonntag einen Sprengstoffanschlag auf dem Hafen-Volksfest ausführte und 13 Menschen tötete, wurde als Reaktion darauf am Montag ein Brandanschlag auf die Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Hotel Drei Kronen verübt, wobei 18 der 30 EinwohnerInnen verünglückten. Als Reaktion auf den Anschlag am Sonntag wurde direkt am Montag eine Kundgebung einer, seit Herbst vergangenen Jahres aktive, rechtsextreme Gruppierung mit 130 Anwesenden durchgeführt. Dazu kam eine Gegenveranstaltung für Toleranz und gegen den Generalverdacht gegenüber Flüchtlingen mit knapp 340 Demonstranten, wobei eine Mehrheit aus dem örtlichen Bürgerbündnis kommt, jedoch auch mindestens 120 Aktive der autonomen und linksradikalen Szene anwesend waren.

Nachdem auch am Mittwoch eine friedliche Kundgebung des Bürgerbündnisses mit insgesamt 250 Demonstranten stattfand, wurden nun für Montag eine weitere Demonstration für eine tolerante, offene und flüchtlingsfreundliche Gesellschaft angemeldet, welche vor den Ruinen der Flüchtlingsunterkunft startet und zum Marktplatz zieht, während auch für Sonntag eine Gedenkmahnwache der rechtsextremen Gruppierung mit einer größeren Demonstration durch die Altstadt vorgesehen ist.

Wir werden auch weiterhin über die Geschehnisse in der Stadt berichten. Auf unserer Internetseite haben wir einen Dossier zusammengetragen und informieren dort über die Ziele einzelner Akteure und Gruppierungen, bündeln aber auch ebenso Berichte und Hintergründe der vergangenen Woche.



XIV

Hanna, ich muss dir was erzählen!
Was denn, Maryam?
Ich habe einen Plan. Ich werde meine Mutter und meine Schwester und alle anderen Opfer rächen, verstehst Du?
Du willst was? Rächen? Maryam... Dein Ernst?
Ich bin überzeugt, dass ich das mache. Morgen will mache ich das.
Und wie? Ich versteh nich...
Bei der Demo in der Altstadt, da werde ich meine Familie rächen. Der rechtsextreme hat unser Leben zerstört, dafür werde ich das seiner Freunde zerstören.
Aber Maryam, das darf man nicht.
Das ist mir egal! Ich habe sogar im Koran gelesen, der gibt mir den Befehl das zu tun.
Aber Maryam... willst Du mich eigentlich verarschen?
Nein! Der Koran hat weise Worte: Töte die Ungläubigen! Kämpf gegen sie, wenn sie gegen dich kämpfen! Lauer ihnen auf!
Maryam!!!
Du willst mir nicht helfen?
Maryam... Du willst doch nicht töten, tu das nicht!
Ich werde die töten! Hilfst Du mir?
Nein niemals.
Dann schweig aber darüber, verstehst Du?
Maryam?!
Schweig!
...



XV

Wie bei nun fast jeder Demonstration, bin ich auch zu der Gedenkmahnwache am Sonntag gegangen. Sie begann, wie es schon fast üblich ist, mit einer arg völkischen Begrüßung, woraufhin eine Schweigeminute abgehalten wurde. Ich halte mich dabei wie immer im Hintergrund und zeichne einzelne Beiträge auf, mache gelegentlich auch ein paar Fotos zur Dokumentation

Liebe Bürgerinnen und Bürger!

Wir haben uns hier versammelt, da der islamistische, mohammedanische und ausländische Terror vor unserer Heimat keinen Halt mehr macht! Wir haben die letzten Wochen erlebt, wie immer mehr Menschen terrorisiert werden, bekämpft werden und deutsche Tugenden immer weiter in den Hintergrund rücken. Es ist schön, dass sich hier so viele versammelt haben - es ist schön, dass Ihr hier seid! Wir ziehen nun mit unserer Gedenkmahnwache durch die Altstadt zum Entenmarkt um dort unsere Abschlusskundgebung zu veranstalten, ehe mir gemeinsam zum Hafen ziehen um dort unsere Kranzniederlegung und deutsche Gedenkzeremonie für die Opfer der ausländischen Gewalt abzuhalten. Wir sind in tiefer Trauer und denken ohneweg an die Angehörigen der Opfer dieses Terrors. Halten wir nun für eine Weile inne...

Schon vorher habe ich bei einem Koordinierungstreffen davon gehört, dass wohl eine Blockade geplant ist. Mittlerweile hatten sich einige verdeckt in einer linken Kneipe getroffen und annähernd 30 Antifaschisten haben begonnen sich aufzuteilen. Sie haben spontan eine Planänderung vereinbart und wollen, sobald die Rechtsextremen ihren Marsch beginnen, sofort die Burgstraße und den Entenmarkt besetzen. Auch in der Umgebung des Hafens haben sich schon einige versammelt.
Es fand wie verabredet keine Gegenveranstaltung statt. Lediglich ein paar Zuschauer haben sich in der Umgebung der wenigen Polizeiwagen eingefunden um der rechten Kundgebung zuhören zu können, überwiegend ältere Personen, Anwohner oder Pressepersonen. Nur zwei junge Mädchen, so 16, 17 Jahre alt waren mit dabei.

Nach ein paar weiteren Redebeiträgen beginnen die Rechtsextremen ihren Rundgang. Es sind knapp 80 Demonstranten vorhanden, umringt von knapp 20 Polizisten, wobei noch an der ganzen Route verteilt weitere warten. Begleitet wird der Zug von ungefähr 15 Zuschauern.

Auf einer Kreuzung hält der Marsch und es wird alles für einen weiteren Redebeitrag vorbereitet. Ein stark tatoowierter Mann in einem schwarzen Anzug, wie er von fast allen Anwesenden getragen wird, erhält das Mikrofon. Ein Polizeibeamter geht zu ihm hin und es wird die Musik wieder angeschaltet, sodass ich nicht hören kann, was besprochen wird. Nach ein paar Minuten wird die Musik wieder abgestellt und der ekelige Rechte beginnt mit seiner Rede:

Meine liebe Trauergemeinde, liebe Anwesende, liebe Zuschauer, liebe Polizeibeamten!

Uns wurde soeben mitgeteilt, dass sich in der Burgstraße ein paar Selbsthasser und Kinder-Teller unserer gewalttätigen Orts-Antifa eingefunden haben und die schön gereinigte Straße mit ihrer Anwesenheit beschmutzen!

Ebenso haben irgendwelche Buntmichel und realitätsferne BRD-Insassen den Entenmarkt für sich beansprucht und beschallen nun die gesamten Anwohner und Passanten mit linksextremistischen Hetzparolen! Das zeigt mal wieder, in welcher Welt wir leben, in welchem System wir leben! In einem System voller Fehler! In einem System, in welchem diese Antifanten tun und lassen können, was sie wollen! Setzten wir dem ein Ende! Wir bestehen darauf, dass die rechtsfremden, illegalen Blockaden geräumt werden und die Schuldigen ihre rechtmäßige Strafe und Erziehung erfahren!

Diese lachhaften Aktionen zeigen uns aber auch, wozu diese Linksfaschisten fähig sind, was sie wollen und was sie fordern! Sie fordern die Abschaffung unseres Volkes, die Legalisierung von Ausländerkriminalität und den Import von Salafisten, Islamisten und anderen gewaltbereiten und anpassungsunfähigen Kriminellen! Dagegen müssen wir vorgehen!

Wir fordern die Errichtung und Sicherungen unserer Grenzen, die Abschiebung von Wirtschaftsflüchtlingen und kriminellen Asylanten, die Abschiebung und Ausweisung von illegalen Asylanten und die Rückführung dieser nach dem Dublin-Abkommen! Hier muss wieder das Deutsch Recht geltend gemacht werden, sonst - und das haben wir schon vor dem vergangenen Sonntag prophezeit - bereiten wir Terroristen nur den Weg zu ihren angeblichen Martyrer-Aktionen! Das muss sich ändern! Im Allgemeinen lässt sich schon von vornherein sagen, dass nur eine Minderheit der hier ankommenden Asylanten dem Asyl würdig sind, denn schon auf ihrem Einmarsch verstoßen sie gegen die verschiedensten Gesetze. Wir wollen das ändern und all jene, die illegal in unsere Heimat eindringen rechtmäßig zurücktreiben!

Auch, und das muss man insbesondere nach dem Volksfest-Anschlag betonen, gehört der Islam nicht zu Deutschland! Das zeigt sich besonders am Koran, den heiligen Worten der Islamisten und Mosleme! Er sagt unter anderem "Und tötet die Ungläubigen, wo immer ihr sie findet!" in Vers fünf der Sure 9. Das heißt, sie dürfen alle töten, die nicht an ihren Allah glauben! Solche Aussagen verstoßen aber eindeutig gegen jegliche Menschenwürde und unsere Deutsche Verfassung! Gehört sowas zu Deutsch..."

Plötzlich sehe ich da, wie das eine der zwei Mädchen, die die mit ihrem schönen dunkelbraunen Haar und ihrer leicht bräunlichen Haut so aussieht, als wäre sie selbst ein Flüchtlings-Mädchen aus dem Nahen Osten, wie eben dieses Mädchen, was ein paar Meter neben mit steht, eine Pistole aus ihrer Jacke holt und zu den Nazis rennt. Auf dem Weg feuert sie schon ein paar Schüsse in die Menge, ehe sie dann gezielt und doch wild auf die einzelnen Demonstranten schießt.

Ich sehe noch, wie ihre Freundin nach ihr ruft, irgendwas mit Miriam, oder so. Die Zuschauer waren völlig verstört und versuchten zu flüchten, die Rechtsextremen verteilten sich ebenso. Die Polizei wirkte überfordert, konnte aber auch kaum gezielt auf das Mädchen schießen. Irgendwann eröffnete ein Polizist das Feuer, schied dabei aber äußerst unkontrolliert. In dem Moment habe ich mich dann auch selbst erstmal nach dem Schock bewegen können. Mir fällt das andere Mädchen auf, das niedergestürtzt auf dem Boden kniet und zu ihrer Freundin ruft, während sie vor lauter Schluchzen kaum ein Wort hervorbringen kann.

Plötzlich sehe ich dann, und das geht alles so unfassbar schnell, wie auch zwei der Rechten Pistolen hervorziehen und das Feuer auf das Mädchen eröffnen, ebenso wie sie in unsere Richtung schießen. Weitere Polizisten reagieren ebenso vorschnell und verwenden Reizgase und Schusswaffen.

Ich krieche zu dem Mädchen und drücke sie auf den Boden, zerre sie beiseite, doch dann kehrt schon allmählich Ruhe ein, denn man hört nur noch einige wenige Schüsse aus den Waffen der Polizisten...



XVI
Spirale der Gewalt dreht sich weiter

Gestern eskalierte die Gedenkmahnwache der örtlichen rechtsextremen Gruppierung, als eine 16-Jährige Syrerin während einer Zwischen-kundgebung aus nächster Nähe das Feuer eröffnete. Daraufhin kamen auch von mindestens zwei rechten Demonstranten Schüsse auf das Mädchen und die unbeteiligten Zuschauer. Die anwesenden Polizeibeamten griffen darauf ebenso zur Waffe und versprühten Reizgase. Insgesamt wurden sechs Demonstranten, zwei Zuschauer und ein Polizist getötet, zwölf Demonstranten und drei Polizisten schwer verletzt. Das Mädchen erlag noch vor Ort mehreren Schussverletzungen.

Laut einer Freundin des Mädchens war dieses stark frustriert und deprimiert, nachdem beim Brandanschlag auf die Flüchtlingsunterkunft am vergangenen Montag ihre Mutter und ihre Schwester starben. Sie habe zuvor von Rache gesprochen und aus dem Koran zitiert, obwohl sie nie sehr gläubig wäre.

Es wird noch heute Abend ein Krisentreffen des örtlichen Stadtrates geben, ebenso ist für kommenden Mittwoch ein Gedenkgottesdienst für die Opfer vorgesehen...



XVII

Der alte Mann sitzt an seinem Schreibtisch und betrachtet die dreckigen Schlieren der Regentropfen, die die ganze Nacht über an das Fenster geprasselt sind. Nun fallen die warmen Strahlen der frühen Morgensonne in den kleinen Raum. Er betrachtet seinen Schreibtisch, seine leeren Bierflaschen und den Artikel auf der Titelseite des Abendblattes. Er streckt sich und steht auf. Seine alten Gelenke knacken, während er durch den Raum zur Tür wankt. Er geht durch den Flur nach draußen in den kleinen Vorgarten, wirft einen Blick auf den noch leicht feuchten Stuhl. Er geht noch einmal ins Haus und kommt nach einigen Minuten mit einem Tablett wieder raus. Tisch und Stuhl wischt er mit dem welligen Zeitungspapier des gestrigen Abendblattes trocken, das kleine friesische Teekännchen stellt er auf den Tisch und füllt seine Tasse. Er bringt das Tablett wieder rein und holt ein neues, scheinbar ungelesenes Buch. Auf dem Stuhl macht er es sich daraufhin bequem, trinkt einen noch recht heißen Schluck und fängt dann an, im Buch herum zu blättern.

Eine Rechtfertigung von Gewalt? Eine Sinnigkeit von Gewalt? Die kann es doch gar nicht geben! Weder in irgendeiner Religion, noch durch irgendwelche Gesetze, Regelungen, Ethiken. Jegliche Gewalt, egal durch welche scheinbare Begründung, hat nur noch neue, sich steigernde Gewalt zur Folge; das ist das Ergebnis der gedankenvollen vergangenen Nacht am Schreibtisch.

Der alte Mann sitzt im Vorgarten und betrachtet die Worte des neuen Buches, ein Teetropfen vermengt mit den, durch den Wind zum Fallen gebrachten Regentropfen vom alten Apfelbaum machen das Papier ein bisschen wellig. Der alte Mann sucht neugierig nach Antworten auf seine Fragen.

Ende.

Freies Verlagshaus